Cover
Titel
In eigener Sache. Eine Kulturgeschichte der Bewerbung


Autor(en)
Luks, Timo
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S., 10 Abb.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Strunz, Institut für Geschichte der Medizin, Technische Universität Dresden

Es gibt vielleicht kaum einen Aspekt der modernen Arbeitsgesellschaft, der Menschen gleich welcher Gehaltsklasse so aufstöhnen lässt wie die permanente Notwendigkeit, sich irgendwo bewerben zu müssen. Dass die Bewerbung als „Kulturtechnik“ (S. 1) Arbeitssuchende bereits seit 200 Jahren fest im Griff hat, zeigt nun der Historiker Timo Luks in seiner lesenswerten Kulturgeschichte der Bewerbung. Die Studie bearbeitet ein bisher wenig bestelltes Feld, das erst in jüngster Zeit ein größeres Forschungsinteresse auf sich gezogen hat.1

Um der Frage der Entstehung und Entwicklung der modernen „Bewerbungskultur“ (S. 16) auf den Grund zu gehen, verfolgt Luks zwei Quellentypen über einen Zeitraum von gut 150 Jahren (1770–1920): einerseits zahlreiche, aus unterschiedlichsten Branchen und sozialen Stufen überlieferte Bewerbungen, andererseits die reichhaltige Ratgeberliteratur (historisch: Briefsteller), an deren Musterschreiben sich Bewerber:innen orientieren konnten. Die Musterschreiben werden dabei als rhetorisch-stilistische Schemata betrachtet, mit denen Luks zuweilen das amüsante Spiel des „Eingangsformelbingo[s]“ (S. 52) betreibt, um ähnliche Muster in archivalischen Quellen wiederzuerkennen.

Etwas weniger allgemein als der Titel vermuten lässt, konzentrieren sich die konkreten Bewerbungen auf den süddeutschen Sprachraum. Luks hat hierfür hauptsächlich Archivalien aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv, dem Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, dem Landesarchiv Baden-Württemberg sowie den Stadtarchiven von Nürnberg, Regensburg und Schwandorf ausgewertet. Sozialgeschichtlich geht es um eine enorme Bandbreite von Schichten, die unter anderem Ärzte, Aufseher, Gesandte, Hebammen, Marktinspektoren, Missionare, Musiker, Pfarrer, Philologen, Polizeidiener, Prediger, Rechnungsrevisoren, Sekretäre, Stenotypistinnen, Theaterleute und Torwächter umfasst. Wie auch das Quellenverzeichnis zeigt, sind Bewerbungen für den Polizeidienst recht prominent. Hier konnte Luks Synergieeffekte aus seiner Habilitationsschrift erzielen, die sich mit Polizeidienern im 19. Jahrhundert befasst hat.2

In acht inhaltlichen Kapiteln umreißt Luks die Geschichte der Bewerbung als allmählichen Verlust des Erzählerischen. Ausgehend vom späten 18. Jahrhundert zeigt er, dass das Bewerbungsschreiben zunehmend an Ausdruckspotenzial verlor. Waren um 1800 ausufernde Darstellungen der eigenen Not und Bedürftigkeit – gerahmt von Schicksalsdramen und günstigen Fügungen – die Regel, sind es seit den 1920er-Jahren mehr und mehr objektivierte „Leistungsindikatoren“, die den Schluss nahelegen, „dass wir immer und überall optimal performen“ (S. 405). Überhaupt ist die formale Ausdifferenzierung von Lebenslauf und Bewerbungsschreiben für Luks eine rezente; über das gesamte 19. Jahrhundert finden sich „Lebenslaufschilderungen“ (S. 22) vornehmlich in Bittschriften und nicht in einem separaten Curriculum Vitae (CV).

Den historischen Tiefenbohrungen vorangestellt sind zwei eher überblicksartige Kapitel, welche die Bewerbung in ihrer Begriffsgeschichte sowie als Textsorte der Ratgeberliteratur skizzieren. Luks weist nach, dass „Bewerbungen“ bis Mitte des 19. Jahrhunderts Bittschriften waren, die geschäftlicher und privater Natur sein konnten. Die Verleihung von Stellen war nur eine Bitte von vielen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts differenzierte sich die Bewerbung in der Ratgeberliteratur tatsächlich als arbeitsmarktspezifische Kulturtechnik aus.

In den Hauptkapiteln umreißt Luks zunächst die Bewerbungskultur um 1800. Er fokussiert hier auf Bewerbungen von Handwerkern für Posten im niederen Dienstleistungssektor und stellt fest, dass nicht Kenntnisse und Qualifikation, sondern Bedürftigkeit und Würdigkeit im Zentrum der Schreiben standen. Die Bewerbungen von bedürftigen Handwerkern wuchsen dabei zu einer regelrechten „rhetorische[n] und narrative[n] Welle“ (S. 94) heran. Ökonomische Umstände konnten genauso wie Familienschicksale erzählt werden; über allem stand die Vorstellung einer „moralischen Ökonomie“ (S. 100), welche die angemessene Versorgung für jeden Untertan vorsah. Ähnliches stellt Luks für ehemalige Militärs fest, die im subalternen Staatsdienst unterkommen wollten. Auch hier waren die Bewerbungen mitunter kreativ und umständlich, oft aber auch floskelhaft. Sie zeugten von ehrlichen Bemühungen um Anstellung, Versorgungssicherheit und Diensttreue. Bei den qualifizierteren Stellen wie solchen von Ärzten, Buchhaltern, Hoforganisten oder Schullehrern waren Ausbildung und Qualifikation immerhin als Erzählelemente vorhanden, wenngleich auch hier Not und Bedürftigkeit wichtige narrative Topoi waren. Luks schließt daraus auf eine allgemeine Bewerbungskultur, die sich in der Schreibpraxis qualifizierter und nicht qualifizierter Bewerber gleichermaßen niederschlug.

Im Anschluss behandelt der Autor die Anstellungsgesuche von Württemberger Kameralisten im frühen 19. Jahrhundert. Noch stärker als die Qualifizierten buchstabierten mittlere und gehobene Beamte im Justiz- und Verwaltungsdienst neue professionelle Maßgaben wie abgelegte Prüfungen, wissenschaftliche Ausbildung oder Fachkompetenz in ihren Bewerbungen detailliert aus. Mitunter fassten die amtlichen Bewerber ihre Beweggründe nun bereits „in eine dem CV angemessene Form“ (S. 173). Gleichzeitig bedeutete dies nicht, dass der Erzählung von Bedürftigkeit kein Raum mehr geboten war.

Die 1820er- und 1830er-Jahre charakterisiert Luks als Zeit bewerbungskultureller Übergänge. Spezialisiertes Wissen und Erfahrungen in einem Feld wurden von nun an immer wichtiger. Noten wurden erstmals in Bewerbungen erwähnt (Luks spart hier einen Verweis auf die bereits früher gebräuchlichen Conduitenlisten aus). Bewerber aus dem Polizeidienst thematisierten zunehmend Konkurrenz, interne Stellenbewegungen und persönliche Dienstaufopferung in ihren Schreiben. Qualifikationen wurden entweder über Zeugnisse oder den Verweis auf soziale Netzwerke nachgewiesen. Gesuche von Interessenten im Bereich der Güterverwaltung und Marktregulierung schwankten „zwischen Standardisierung und individueller Ausgestaltung“ (S. 233), banden jedoch auch verstärkt wirtschaftliche Kenntnisse in ihre Schreiben ein. Interessant ist die Beobachtung, dass organisatorische Außenseiter dazu neigten, in ihren Bewerbungen besonders ausführlich zu erzählen.

In der Mitte des Jahrhunderts vermeint Luks, die inhaltlichen Grundlagen der modernen Bewerbungskultur ausmachen zu können. Hier zeigten sich Bewerber:innen immer routinierter im „Spiel von Differenz und Wiederholung“ (S. 263); die Lebenslaufschilderungen werden zunehmend etappenförmig. Spannend sind in dieser Hinsicht eine Reihe von Mehrfachbewerbungen, die Luks ausgewertet hat (teils beginnen diese aber nicht in der Mitte des Jahrhunderts, sondern schon in den 1820er-Jahren). Ab den 1840er-Jahren zeigten sich Bewerber:innen vermehrt mit Auswahlkriterien vertraut und verwiesen immer öfter auf Noten, Prüfungen und Zeugnisse. Trotz dieser zunehmenden Standardisierung präsentierten sich Arbeitssuchende auch noch in der Jahrhundertmitte rhetorisch als bedürftig sowie würdig und appellierten damit weiter an die moralische Ökonomie der Subsistenz.

Das letzte inhaltliche Kapitel beleuchtet schließlich die Zeit um 1900 als Epoche, in der sich unsere heutige Bewerbungskultur endgültig ausgebildet hat. Die Differenzierung in Bewerbungsgesuch, Lebenslauf, Schulzeugnis und Beschäftigungszeugnisse ging einher mit der zunehmenden Differenzierung des Arbeitsmarkts in zahllose Teilarbeitsmärkte. Die Bewerbung wurde zunehmend „Problem des Bewerbers“ (S. 342), der sich im nun als gleichsam individuell und vergleichbar präsentieren musste. Das Narrative geriet damit immer mehr ins Hintertreffen; der Lebenslauf wurde absatz- und listenförmig. Anders als in den vorigen Kapiteln beruht die archivalische Fundierung dieser Beobachtungen aus der Ratgeberliteratur auf einer relativ kleinen Auswahl. Luks analysiert Bewerbungen für Stellen im Vaihinger Arbeitshaus und zwei Bewerbungen für Posten in einer Nürnberger Maschinenfabrik. Hier hätte man gerne mehr von der endgültigen Umformatierung der Bewerbung um 1900 in unterschiedlichen Arbeitswelten erfahren, gerade hinsichtlich der Frage, ob Bewerber:innen und Organisationen diese Entwicklungen selbst reflektierten.

Timo Luks' Kulturgeschichte der Bewerbung ist angenehm leichthändig geschrieben und mit vielen längeren Zitaten von Bewerber:innen untermalt, die einen fundierten Eindruck von der kulturellen Semantik der Textsorte geben. Die Studie konzentriert sich vor allem auf die Bewerbungskultur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und beleuchtet dafür eine beeindruckende Bandbreite von Teilarbeitsmärkten. Überzeugend zeigt Luks, dass trotz Akzentverschiebungen und Professionalisierungsschüben der normative Rahmen der Versorgung bis weit nach 1850 erhalten blieb. Obwohl der Gebrauch von Singular und Plural variiert, scheint Luks im Allgemeinen doch für eine zeitlich jeweils signifikante Bewerbungskultur zu plädieren, die über Berufe und Schichten hinweg relativ kongruent war. Diese These gewinnt dadurch an Plausibilität, dass Bewerber:innen gleich welcher Herkunft wohl ähnliche Ratgeber lasen. Gleichwohl wäre zu fragen, ob bei so unterschiedlichen Bewerbungen wie denen ausgedienter Militärs und höherer Beamter nicht spezifische Organisationskulturen eine wichtigere Rolle spielten als die kulturellen Muster aus der Ratgeberliteratur. Möglicherweise wäre dann doch eher von multiplen Bewerbungskulturen zu sprechen, die sich zeitlich überlappen konnten. Diesen Einwänden unbenommen, bietet Luks Arbeit einen umfangreichen Einblick in die Kulturgeschichte der Bewerbung, der zu weiteren Forschungen einlädt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Valentina dal Cin, Candidarsi a un impiego in età napoleonica. Riflessioni a partire da una ricerca in corso, in: Passato e Presente 119 (2023), S. 53–68.
2 Vgl. Timo Luks, Schiffbrüchige des Lebens. Polizeidiener und ihr Publikum im neunzehnten Jahrhundert, Köln 2019.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch